Libertäres Literaturtreffen

Die VII. Anarchistische Buchmesse fand vom 9. bis 12. Mai in Mannheim statt. Eine Reihe libertärer Verlage, Zeitungen und weitere Aussteller*innen präsentierten von historischen Werken bis hin zu aktuellen Titeln eine große Auswahl an anarchistischer und linker Literatur. Drei volle Veranstaltungstage und ein buntes Rahmenprogramm am Abend boten dabei eine gute Gelegenheit, in anarchistische Welten ein- und abzutauchen.

Thiemo Kirmse, Münster

Der Anarchismus ist ein weites und spannendes Feld, in dem es viel zu entdecken gibt. Gleichzeitig ist er kaum bekannt, unverstanden und mit Vorurteilen behaftet, die nur wenig mit seinem eigentlichen Wesen zu tun haben. Was es bedeutet, Anarchist*in zu sein, das hat David Graeber so schön und einfach in einem kurzen Essay vor vielen Jahren beschrieben. Wenn es stimmt, was Graeber sagt, dann gibt es weit mehr Anarchist*innen, als man denkt, denn viele Menschen wissen gar nicht, dass sie Anarchist*innen sind.

Ich bin mir meiner Sache schon sicher, als ich mich mit dem Zug auf den Weg nach Mannheim mache, auch wenn es mir widerstrebt – ganz anarchistisch natürlich – mich irgendwo zuzuordnen. Die lange Fahrt ist mir willkommen, denn so kann ich endlich und passenderweise den Wälzer von Horst Stowasser zur Hand nehmen. Auf gut 500 großen und eng bedruckten Seiten erzählt Stowasser von Idee, Geschichte und Perspektive der Anarchie. Zu viel für die Hin- und Rückfahrt, aber ein guter Einstieg ins Thema. Nach wenigen Seiten bin ich gefangen und fühle mich angekommen, lange bevor ich Mannheim erreiche.

CONTRASTE-Stand auf der Anarchistischen Buchmesse. Foto: Hubi Kramer

Die späte Anreise am Vortag ermöglicht mir die Teilnahme an einer der ersten beiden Veranstaltungen am nächsten Morgen. Elisabeth Voß stellt das von ihr mit übersetzte und im AG SPAK-Verlag veröffentlichte Buch »Pluriversum – Ein Lexikon des Guten Lebens für alle« vor. Hervorgegangen aus einem Treffen bei der Dewgroth-­Konferenz 2014 in Leipzig haben Alberto Acosta, Ashish Kothari und drei weitere Herausgeber*innen 120 Autor*innen versammeln können, die in 100 Beiträgen eine Vielfalt alternativer Ansätze, Ideen und Entwicklungsmöglichkeiten aus aller Welt aufzeigen, die dem westlichen Wachstums- und Fortschrittsparadigma diametral gegenüberstehen. Das Buch, welches zuerst im Jahr 2019 in Indien in englischer Sprache veröffentlicht worden ist, gibt es seit dem Herbst 2023 auch in der deutschen Übersetzung. Eine erste Rezension konnte man bereits in der Dezember-Ausgabe der CONTRASTE lesen.

Eine Welt, in der viele Welten Platz haben

Spannend an diesem Buch ist nicht nur sein Inhalt, sondern der Gedanke einer globalen Zusammenarbeit und eines globalen Dialogs, was zugleich Teil des Entstehungsprozesses und Ergebnis des vorliegenden Werkes ist. Das Nachdenken, Entwickeln und der Austausch über die vielen Welten, die in der Einen ihren Platz haben sollen, endet nicht mit den Beiträgen des Buches, sondern darf und muss weitergehen. In die gleiche Richtung denkt Ashish Kothari als einer der Initiatoren des »Globalen Wandteppichs der Alternativen«, auf den Elisabeth Voß bei ihrer Vorstellung verweist. Es geht um die Vernetzung von Menschen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene, um den Aufbau von solidarischen Netzwerken und strategischen Bündnissen, mit denen Räume für die Zusammenarbeit, die Diskussion, das Voneinanderlernen und die kritische Reflexion geschaffen werden sollen. Diese Initiative könnte kaum kleiner und der Weg bis zur kritischen Masse kaum weiter sein, doch die Idee ist genau richtig.

Mein nächster Tag beginnt mit einem Frühstück, draußen in der warmen Morgensonne an einem der beiden Tische vor der Bäckerei, die nur wenige Schritte von meinem Hotel entfernt liegt. Ich lerne Werner kennen, der am anderen Tisch sitzt und den ich am nächsten Morgen wiedertreffen werde. Er habe bereits auf mich gewartet, meint er lächelnd bei unserem Wiedersehen. Wir reden und frühstücken also gemeinsam und während ich ihm von der Anarchistischen Buchmesse erzähle, erfahre ich ein wenig von seinem Leben als Handwerker. Mittlerweile im Ruhestand ist er immer noch handwerklich tätig und renoviert an diesem Wochenende, zusammen mit einem jungen afghanischen Bekannten, die Wohnung eines befreundeten Ehepaares. Auch Werner liest gerne und gibt mir am Ende noch eine Buchempfehlung mit auf den Weg: der Postbote von Pablo Neruda. Der Titel heißt so ähnlich und ich finde ihn später nach kurzer Suche im Netz.

Beeindruckende Berichte

Zurück auf der Buchmesse muss ich mich entscheiden, wie der Tag für mich weitergeht. Die Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen bilden einen Schwerpunkt der Anarchistischen Buchmesse und die Möglichkeit – nicht nur anhand von Buchvorstellungen – viele verschiedene Themen kennenzulernen. Soziale Kämpfe aus Geschichte und Gegenwart, gelebte Verlagsgeschichte und Biografien sind genauso Thema wie globale Auseinandersetzungen mit aktuellem Bezug – von Indien, dem Iran bis hin zur Ukraine. Besonders eindrücklich waren die bebilderten Erfahrungsberichte eines medizinischen Einsatzes an der EU-Außengrenze zwischen Großbritannien und Frankreich – in der Nähe von Calais –, und einer Reise nach Rojava in Nordostsyrien. Der Mediziner Michael Wilk, der bereits seit zehn Jahren in der von der Türkei wiederholt völkerrechtswidrig angegriffenen Region Hilfe leistet, vermittelt Eindrücke und Sichtweisen, die man in der deutschen Medienlandschaft so kaum findet.

Die Emotionslage reicht in beide Richtungen weit: Empörend und schockierend das eine, das andere derart, dass man nicht aufhören möchte, zuzuhören. Eine der Veranstaltungen, für die das Letztere gilt, ist die Buchvorstellung von Hanna Mittelstädt: »Arbeitet nie!« – fürs nächste Leben merke ich mir das! Das Buch, so sagt sie es im kurzen Gespräch nach der Vorstellung, sei eine einzige Ermutigung. Ich freue mich schon darauf, es zu lesen.

Voll besetzt ist auch der Vortrag von Jonathan Eibisch, der eine Brücke zwischen anarchistischer Theorie und Praxis schlagen will und der versucht, anarchistische Inhalte in die öffentliche Debatte zu bringen, um diese für eine emanzipatorische Praxis fruchtbar zu machen. Seit nunmehr sechs Jahren tourt Jonathan Eibisch mit diesem Anliegen überwiegend durch den deutschsprachigen Raum. Auf unterhaltsame Art berichtet er im Vortrag von seinen Erfahrungen und Erlebnissen. Zunehmend wird dabei im Verlauf deutlich, wie umfangreich und vielschichtig die anarchistische Geschichte, Theorie und Praxis ist und dass sie – entgegen verbreiteter Vorurteile – viel mehr zu bieten hat, als man gemeinhin denkt. Mindestens eine eigene Theorie ist darin enthalten, die, so wünscht es sich Jonathan Eibisch, mit mehr Selbstbewusstsein nach außen vertreten werden sollte. Gerade im deutschen akademischen Bereich scheint hier eine gewaltige Lücke zu klaffen, in der der Anarchismus deutlich unterbelichtet – wenn nicht gar unvollständig und falsch – erscheint.

Gleiches ist auf der anschließenden Veranstaltung zu hören, wo der zweite Teil des von Thomas Friedrich herausgegebenen »Handbuch Anarchismus« – veröffentlicht im Verlag Springer VS – vorgestellt wird. Mit diesem Mammutwerk soll genauso wie mit den Arbeiten von Jonathan Eibisch ein Beitrag geleistet werden, um die genannte Lücke zu schließen. Wer tiefer in die Arbeiten von Jonathan Eibisch einsteigen möchte, der kann sich seine frisch beim transcript Verlag erschienene Dissertation »Politische Theorie des Anarchismus« aneignen. Sicher ist dieser Stoff nicht für jeden und jede einfach zugänglich und doch liegt in der Vermittlung des Wissens um anarchistische Theorie und Praxis ein großer Schatz, der Menschen in emanzipatorischen Bewegungen, und denjenigen, die selbstorganisiert neue Wege zu und in alternativen Welten beschreiten, eine wertvolle Orientierung bieten kann. Anarchismus, Emanzipation und Selbstorganisation haben viel miteinander zu tun.

Wie geht es weiter mit der Buchmesse?

So lautete der Titel der Veranstaltung, die für mich den Abschluss dieses intensiven Wochenendes am Sonntagmorgen in Mannheim bedeuten sollte. Die Organisator*innen von der Anarchistischen Gruppe Mannheim hatten eingeladen, um diese Frage gemeinschaftlich zu diskutieren. Wie der Titel dabei schon vermuten ließ, gab es einen entsprechenden Diskussionsbedarf, denn die Organisation der Buchmesse ruhte zuletzt auf den Schultern nur noch einiger weniger Menschen, die im Vorfeld an und teilweise über ihre Belastungsgrenze hinausgegangen waren. Eine weitere Buchmesse in zwei Jahren könne es daher nur geben, wenn sich wieder mehr Menschen aktiv an der Vorbereitung beteiligen würden.

Der Zuspruch in der Runde war groß und der Wunsch, dass die Messe fortbestehen möge, kam deutlich zum Ausdruck. Eine Reihe der Anwesenden bekundete dann auch ihr Interesse und die entsprechende Bereitschaft künftig, von nah und fern, bei der Vorbereitung und Organisation zu unterstützen. Das macht Mut und bekräftigt die Hoffnung, dass es auch eine VIII. Anarchistische Buchmesse in Mannheim geben wird.

Für die Ausgabe des Jahres 2024, und genauso für die vorherigen Messen seit dem Jahr 2011, gebührt den Organisator*innen in jedem Fall großer Dank. Sie schaffen damit einen Ort des Austauschs für die libertäre Szene und die Möglichkeit, anarchistische Inhalte auch einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

Kurz vor der Heimfahrt verabschiede ich mich von Heinz und Ariane, die ich am Stand von CONTRASTE kennengelernt habe, und mache mich auf den Weg zum Zug. Auf der Rückfahrt lese ich wieder in dem großen roten Buch von Stowasser. Der Text wird etwas zäher. Mein Sitznachbar, ebenfalls auf der Rückfahrt und mit der ersten Dose Bier in der Hand, sieht, was ich lese, und fragt, ob er den Titel fotografieren könne. Für seinen Sohn, wie er sagt. Na klar, kann er. Er freut sich und macht ein Foto. Auch ein Anarchist? Bestimmt!

Titelbild: Thiemo Kirmse

Links:

Kurzer Essay von David Graeber: https://kurzlinks.de/r93n
Pluriversum: https://agspak.de/pluriversum
Globaler Wandteppich der Alternativen: https://globaltapestryofalternatives.org

Voraussichtlich in unserer September-Ausgabe erscheint eine Rezension von Jonathan Eibischs Dissertation. Das pdf zum kostenfreien Download ist zu finden unter: https://kurzlinks.de/tr9t

Einen Beitrag von Hanna Mittelstädt über den Verlag »Edition Nautilus« lest ihr in der nächsten CONTRASTE-Ausgabe Nr. 478/479.

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